- Die Bundesregierung hat offenbar großes Unwissen darüber, welche Maßnahmen wie gut bei der Eindämmung der Corona-Pandemie helfen.
- Das wird in einer Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf eine Kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion deutlich, die unserer Redaktion vorliegt.
- Demnach sei "nicht möglich, die Auswirkung einer einzelnen Maßnahme" zu bestimmen – das eigentliche Problem ist aber ein anderes.
Deutschland befindet sich im Jahr zwei der Corona-Pandemie, ein Ende der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie ist nicht abzusehen – auch weil die Inzidenzen und der Anteil der Hospitalisierungen steigen und sich die ansteckende Delta-Variante des Virus immer weiter ausbreitet. Zugleich verliert die Impfkampagne immer weiter an Fahrt.
Für das Robert-Koch-Institut (RKI) ist klar: "Die vierte Welle hat begonnen." Ein weiterer Lockdown – der nunmehr vierte – steht derzeit nicht zur Diskussion, völlig ausgeschlossen ist er aber auch nicht. Hilfreich könnten in jedem Fall Erkenntnisse zur Wirksamkeit der Corona-Schutzmaßnahmen sein, die die Bundesregierung in den zurückliegenden anderthalb Jahren eingeführt hat.
Genau das wollte die FDP-Bundestagsfraktion in einer Kleinen Anfrage wissen – mit erstaunlichem Ergebnis.
Bundesregierung offenbart großes Unwissen
Denn nach wie vor herrscht offenbar großes Unwissen bei den Entscheidern im Bund: Es sei "nicht möglich, die Auswirkung einer einzelnen Maßnahme auf einen Indikator (z. B. Inzidenz) belastbar und generalisierbar zu quantifizieren und zwischen Ländern zu vergleichen", schreibt das zuständige Bundesgesundheitsministerium in seiner Antwort an die Partei. Das siebenseitige Schreiben, datiert auf den Dienstag, liegt unserer Redaktion vor, die "Bild"-Zeitung hatte zuerst darüber berichtet.
Die Behörde schreibt lediglich von "multifaktoriellen Zusammenhängen", die allerdings ebenfalls nur eine "mögliche Erklärung für die Variationen in der Effektivität einzelner Maßnahmen zwischen unterschiedlichen Regionen oder Ländern" sein können. Klar sei laut Gesundheitsministerium bloß, dass mehrere gleichzeitig umgesetzte Schutzmaßnahmen "einen Rückgang von Infektionen herbeiführen".
Kurzum: Was die Zahl von Neuinfektionen während der bisherigen Lockdowns maßgeblich gesenkt hat und welche Maßnahmen umgekehrt wenig gebracht haben, ist unklar.
Bundesregierung hat bisher offenbar Wirksamkeit nicht untersuchen lassen
Das Problem ist aber weniger, dass das Unwissen noch so groß ist, sondern vor allem, dass die Bundesregierung es bisher wohl versäumt hat, mit Studien und Analysen gegenzusteuern. Auf die Frage, was die Bundesregierung unternimmt, "um die Wirksamkeit der einzelnen Schutzmaßnahmen zu evaluieren und zu untersuchen", liefert sie keine Antwort.
Dass es durchaus möglich ist, Effekte einzelner Maßnahmen wissenschaftlich zu untersuchen, zeigen aber mehrere Studien. Diese verglichen unter anderem, welche Regelungen sich wie stark auf zentrale Kennzahlen der Pandemie ausgewirkt haben.
So zeigte eine Untersuchung der britischen University of Oxford zu verschiedenen staatlichen Eingriffen in das öffentliche Leben in 41 Ländern, darunter auch Deutschland, dass ein Versammlungsverbot für mehr als zehn Personen und die Schließung von Schulen und Hochschulen während der ersten Welle von Januar bis Mai 2020 wohl die effektivsten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus waren. Zum gleichen Ergebnis kam auch eine weitere, im Fachmagazin "Nature" publizierte Studie.
Beide Untersuchungen erschienen bereits Ende vergangenen Jahres.
Was das Robert-Koch-Institut sagt
Dazu lassen sich weitere Fragen, etwa zur Ausbreitung von Aerosolen insbesondere in Innenräumen, auch im Labor untersuchen. Es gilt als sicher, dass sich das Coronavirus vor allem über die Luft verbreitet, sei es über Aerosole oder Tröpfchen, die beim Husten und Niesen entstehen.
Was Außenbereiche angeht, ist die Einschätzung des RKI unzweifelhaft. Auf der Webseite des Instituts, das die Bundesregierung bei Gesundheitsfragen maßgeblich berät, heißt es: Übertragungen kämen draußen insgesamt selten vor und hätten einen "geringen Anteil" am gesamten Geschehen.
Werde der Mindestabstand gewahrt, sei die Wahrscheinlichkeit der Übertragung im Außenbereich wegen der Luftbewegung "sehr gering".
FDP-Politiker Schinnenburg kritisiert Verhalten der Bundesregierung scharf
Aus Sicht des FDP-Gesundheitspolitikers Wieland Schinnenburg ist das Verhalten der Bundesregierung "eine Schande". "Die Bundesregierung veranstaltet betreffend Corona einen teuren Blindflug: Sie kann für keine der ergriffenen Maßnahmen angeben, ob diese wirksam sind", sagte Schinnenburg in einer Stellungnahme an unsere Redaktion.
Er wirft der Großen Koalition vor, sie habe sich nicht verfassungsrechtlich beraten lassen und nicht geprüft, ob Maßnahmen aus anderen Ländern hätten übernommen werden können. "Es wurden teure Maßnahmen, die die Freiheit der Bürger stark einschränken und viele wirtschaftliche Existenzen gefährden, ergriffen, ohne dass diese auf ihre Wirksamkeit und Verfassungsmäßigkeit geprüft wurden", bemerkt der Hamburger Bundestagsabgeordnete.
Der Bonner Virologe Hendrick Streeck hatte bereits im Januar im Interview mit unserer Redaktion kritisiert, dass "wir bei über 80 Prozent der Fälle immer noch nicht wissen, wo sich die Menschen infiziert haben". Es gebe "ein großes Unwissen über die Pandemie" und es herrsche "Ahnungslosigkeit". Aus diesem Grund sei die Politik damals gar nicht drumherum gekommen, harte Entscheidungen zu treffen, um das Infektionsgeschehen zu kontrollieren.
Es scheint sich seitdem nicht viel geändert zu haben.
Verwendete Quellen:
- Schriftliche Antwort des Bundesgesundheitsministeriums auf die Kleine Anfrage der FDP-Bundestragsfratkion zur "Wirksamkeit der Corona-Schutzmaßnahmen während des Lockdowns"
- Science: "Inferring the effectiveness of government interventions against COVID-19"
- Nature: "Ranking the effectiveness of worldwide COVID-19 government interventions"
- Robert-Koch-Institut: "Epidemiologischer Steckbrief zu SARS-CoV-2 und COVID-19", Stand: 14.07.2021
- Schriftliche Stellungnahme von Wieland Schinnenburg
- Meldungen der Deutschen Presse-Agentur
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